Das Eisenbahnunglück
Der notorische Villenbesitzer Thomas Mann, dessen Wohnsitz in Pacific Palisade gerade der deutschen Staat erwarb, ist immer gerade dann am besten und er selbst, wenn er Begebenheiten aus seiner eigenen Lebenswirklichkeit erzählt. Sei es in „Unordnung und frühes Leid“ oder wie hier zur Rede steht, im „Eisenbahnunglück“.
Thomas Mann schildert, wie sein Alter Ego im Nachtzug von München nach Dresden reist. Er fühlt sich geborgen in seinem Schlafwagenabteil erster Klasse, in dem er die Reise zu einer Lesung nach Dresden antritt. Er steht am geöffneten Abteilfenster, raucht seine Abendzigarre, freut sich, dass der Verlag alles zahlt und er, wie es ihm zusteht, „mit Komfort reist“. Entspannt beobachtet er das Treiben auf dem Bahnsteig und beobachtet den Schaffner, einen Wachtmeister–Typus, der mit seiner Umsicht und Strenge für ihn den Staat repräsentiert. Ein Herr setzt sich über ihn hinweg und nimmt sein Hündchen mit in das Abteil. Eine einfache Frau wird barsch in die dritte Klasse verwiesen. Das ist unser Staat, fürsorglich und streng.
Keine „allgemeine Ziehharmonika“
Der Zug fährt an, mitten in der Nacht geschieht ein Unfall, eine Entgleisung. Doch Gott sei Dank kommt es zu keiner „allgemeine Ziehharmonika“. Dennoch wird das gesellschaftliche Gefüge heftig erschüttert. Der Herr mit seinem Windhund pocht weiterhin auf seine „gesellschaftlichen Vorrechte“. Der Wachtmeister „Staat“, in der Katastrophe Herr der Lage, weist ihn barsch in seine Schranken und die einfache Frau darf in der ersten Klasse Platz nehmen.
Wenn man so will, dann ist hier eine Vorahnung der gesellschaftlichen Umwälzung nach dem Ersten Weltkrieg enthalten. Es gab zwar nicht die „allgemeine Ziehharmonika“ wie nach dem Zweiten Weltkrieg, doch immerhin muss die herrschende Klasse ihr Schoßhündchen in den Gepäckwagen schaffen und die einfache Frau darf in den Polstern der ersten Klasse Platz nehmen.
Ironisch schildert Thomas Mann hier seine eigenen Macken, sowie die damals herrschende Klassengesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Gesellschaft, welche uns heute so fern ist wie die frühe Kreidezeit. Tatsächlich liegt diese aber noch nicht einmal 100 Jahre zurück.
Für Freunde des „Zauberers“, wie ihn seine Familie nannte. Diese Novelle ist eine amüsante und erhellende Pflichtlektüre für Einsteiger in den Kosmos von Thomas Mann und Freunde des Reisens mit dem Schlafwagen.