Der zweite Roman des jungen shootingstars der französischen Literatur ist unmittelbar, direkt und krass. In hartem Stakkato wird der Leser in die Handlung geworfen. Der Icherzähler schreibt sich sein Entsetzen der letzten Nacht von der Seele. Er, Éduard Louis, schildert verstörend direkt seine brutale Vergewaltigung. Er beschreibt in synkopischen Sprachryhtmen wie er nun die Wohnung desinfiziert, Bettwäsche, Handtücher in den Waschsalon bringt, um alle Spuren und Gerüche der vergangenen Nacht zu tilgen.
Dreh Dich nicht um nach fremden Schritten
Auf dem Nachhauseweg von einer Weihnachtsfeier mit Freunden, wird Éduard Louis in der Nacht im Baustellengewirr am Place de la Bastille von einem Maghrebiner angesprochen. Es beginnt ein Flirt. Zart beschrieben das Schillern zwischen Begehren, Lust, Nachgeben und Vorsicht. Sich nach Mitternacht mit einem Wildfremden einzulassen könnte gefährlich sein, ist gefährlich. Louis nimmt den jungen Mann, Reda, schließlich mit in seine Wohnung. Sie verbringen eine erotische Nacht in zärtlicher, knisterden Lust mit erfülltem Sex.
Im Morgengrauen eskaliert die Situation, als Louis bemerkt, dass sein Handy und sein Laptop nicht mehr am gewohnten Platz sind, sondern in der Tasche von Reda. Es kommt zum Streit. Reda wird gewalttätig. Er ist gekränkt als Dieb ertappt worden zu sein. Er würgt Louis, bedroht ihn mit einer Pistole, vergewaltigt ihn mehrfach brutal. Der Zauber der Nacht und der Begegnung im erotischen gegenseitigen Begehren ist zerrstört. Alles Glück der Nacht ist nun vorbei, ausgelöscht im Herzen der Gewalt.
Was nun beginnt ist die Scham ein Opfer geworden zu sein:
Die Scham eine Anzeige machen zu müssen. Die Scham, den vernehmenden Beamten deren Fragen zum Tathergang beantworten zu müssen. Die Scham die notwendigen medizinischen Untersuchungen machen zu müssen.
Das Warten in den Polizei- und Krankenhausfluren an einem ersten Weihnachtsfeiertag wird im Stil der Musik von Miles Davis geschildert. Cool, unaufgeregt, gebrochen mit Synkopen und Dissonanzen. Regen, Melancholie, Traurigkeit bestimmt die weitere Erzählung. Bilder des Films „Fahrstuhl zum Schafott“ von Louis Malle drängen sich auf.
Das ist alles sehr flüssig und stimmig erzählt. Kritisch sehe ich, wie Éduard Louis jetzt in seinem zweiten Roman nach dem Erstling „Das Ende von Eddy“, mehr und mehr in die soziologische Betrachtung seiner Figuren gleitet. Die Figuren des Romans werden gesellschaftskritisch gespiegelt auf der Folie der französischen Klassen- und Rassengegensätze. Dies ist sicher auch dem Einfluss seines Mentors Didier Eribon geschuldet. Und natürlich auch seinem Studium. Aber der direkte Zugriff auf den Stoff leidet. Es bleibt abzuwarten, wie Louis seinen dritten Roman, ein Buch über seinen Vater, angehen wird.
Im Herzen der Gewalt ist ein gewalttätiges und und doch auch merkwürdig zärtliches Buch. Ein Buch das einen nicht kalt lässt.
Man muss es gelesen haben.