Tyll

von Daniel Kehlmann

Bis zum Beginn des 20. Jahrhundert galt der Dreißigjährige Krieg als die größte Katastrophe der deutschen Geschichte, eine Epoche, die das vermutete kollektive Gedächtnis traumatisierte. Noch für die Schrecken des ersten Weltkriegs diente dieser längste mitteleuropäische Krieg als Metapher. Richarda Huch veröffentlichte ab 1912, am Vorabend des ersten Weltkriegs, ihre zunächst auf drei Bände und 1.500 Seiten angelegte monumentale Erzählung „Der große Krieg in Deutschland“. Dieses Werk endet noch mit einer Geste der Vergebung, mit einer Durchbrechung der Gewaltspirale. Mit seinem nicht minder monumentalen „Wallenstein“ bringt Alfred Döblin dann 1920 ein Werk heraus, das er 1916 in Angesicht der Schrecken des 1. Weltkrieges begann und mit dem er vom selbst erlebten Krieg auf der Folie des dreißigjährigen Krieges berichten will, schonungslos und hart auch in Sprache und Stil.

In seinem 2017 erschienenen Roman „Tyll“ nimmt auch Daniel Kehlmann den dreißigjährigen Krieg zur Grundlage seiner Erzählung. In diesen Krieg hinein setzt er die Figur des Tyll (Till) Eulenspiegel. Das entspricht zwar nicht der volkstümlichen Überlieferung. Diese verortet den Eulenspiegel als Narrenfigur stets im Spätmittelalter. Aber daran ist ein Literat natürlich nicht gebunden. Schon bei Gerhard Hauptmann (1928) erscheint Eulenspiegel in einer anderen Zeit, ausgestattet mit Fliegerhaube statt Narrenkappe mitten im 1. Weltkrieg.

Eulenspiegel als Mensch und Idee

Auch ist Eulenspiegel bei Kehlmann kein Narr, sondern ganz Mensch, genauer gesagt einer derjenigen Menschen, die vom Autor in Miniaturen portraitiert werden. Aber Eulenspiegel erscheint daneben auch als eine Idee, mit der die Menschen konfrontiert sind. Das ist hier nicht die Idee eines Simplicissimus, der Einfalt, an der sich die Dummheit der anderen wie in einem Spiegel zeigt. Es ist vielmehr die Idee einer Vernunft, allerdings weniger als moralische Sphäre denn als Lebensklugheit. Sie tritt den Menschen nicht gegenüber, sondern steht ihnen zur Seite, sie müssen sich nur für sie entscheiden. Das tun die Menschen aber leider meistens nicht. Und so entsteht ein großes Durcheinander, eine Kette fataler Entscheidungen, ein immerwährender Krieg mit Phasen des Friedens, in denen die Konflikte von der Oberfläche verschwinden, ohne wirklich weg zu sein.

Daniel Kehlmann ist ein Erzähler mit Sprachmacht. Ihm durch seinen Roman zu folgen, fällt darum nicht schwer. Aber es ist schwer aufzunehmen, was in den Bildern, die sich aus dem Text formen, an Zumutungen entsteht, an Dunkelheit und Brutalität, wie sie der Krieg den Menschen brachte.

Der Handlungsbogen des „Tyll“ zieht sich durch die gesamten dreißig Jahre des Krieges. Zu Beginn ist Tyll noch ein Junge, am Ende ein lebenskluger Mittvierziger. Wobei sich die Lebensklugheit auf einige sehr wenige klare Maximen stützt.

Die Anordnung der Episoden im Roman ist nicht chronologisch. Es geht stattdessen immer mal wieder einen Schritt zurück, es geht von den Orten, an denen Menschen Entscheidungen treffen, hin zu Orten, an denen Menschen die Wirkungen von Entscheidungen spüren müssen. Und immer taucht Tyll auf, mindestens als Mensch oder als Idee, meistens in beiden Facetten.

Daniel Kehlmann präsentiert uns in seinem Werk auch einige wirklich starke Ideen. Allein schon wie der Diskurs über die richtige Religion vorgeführt wird, verdient Beifall. Der Unterschied zwischen wahrem Glauben und Ketzerei wird allein vom Rang der Person definiert. Um Geistern, Dämonen oder auch Drachen ungestraft nachspüren zu dürfen, statt für diese Ideen verbrannt zu werden, braucht es Autorität, mehr nicht.

Die Kunst des Überlebens

Die Figuren, die im Roman portraitiert werden, haben alle, Eulenspiegel und seine Entourage ausgenommen, reale Vorbilder. Die Handlungen und Gedanken sind aber weitgehend hinzuerfunden. Wobei, von einigen Episoden ließe sich fast wünschen, dass sie sich so zugetragen haben. So etwa das Gespräch des kaiserlichen Gesandten mit der gewesenen Kurfürstin von der Pfalz und gewesenen Königin von Böhmen während der langen Friedenskonferenz in Osnabrück, wo die katholische Seite um die Beendigung des Krieges verhandelte. Hier also lässt Kehlmann den Botschafter erklären: „Ihr habt diesen Krieg angefangen, Madame. Ich beende ihn.“ Anfang und Ende des ganzen Schlachtens reduziert auf zwei Personen, welch gelungener Verweis auf individuelle Verantwortung und die großen Folgen kleiner Taten.

Und Eulenspiegel? Er versucht im Grunde den ganzen Roman über nichts anderes, als am Leben zu bleiben. Von der ersten Erkenntnis als kleiner Junge „Ich werde nicht sterben“, über die trotzige Aussage des in einer Mine Verschütteten „Ich sterbe nicht heute“ führt der Weg hin zur Antwort auf die entscheidende Frage: Was denn besser sei, als friedlich zu sterben? Nicht sterben, das sei viel besser, weiß Eulenspiegel.

Am Leben gehalten wird Eulenspiegel durch die Reinheit seiner Handlungen und seinen Überlebenswillen. Was dagegen der Idee „Eulenspiegels“ Unsterblichkeit bringt, ist hoffentlich dieser Rest von Humanismus, der dafür sorgte, dass selbst der dreißigjährige Krieg nach langen dreißig Jahren ein Ende fand, vorerst. 

Und so endet das Buch damit, dass die „Winterkönigin“ Elisabeth von der Pfalz, deren Gatte Friedrich IV. einst durch seine Wahl zum Böhmischen König den Anlass zum Krieg gab, einen neuen Winter, eine zweite Chance bekommt. Sie hat sie offensichtlich genutzt. Denn ihre Nachkommen sind seit 1701 und bis heute die einzigen, die berechtigt sind, die Krone des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland zu tragen. Den Briten hätte man allerdings beim Brexit einen Tyll an die Seite gewünscht.


Verlagsseite:

«Tyll» bei Rowohlt

Autor: Daniel Kehlmann
Verlag:Rowohlt
Genre:Roman
Seiten:480
ISBN:9783498035679

1 Kommentar zu „Tyll“

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