Der Herbst 1918 zählte schicksalhafte Wochen für die deutsche, die europäische und für die Weltgeschichte. Und inmitten dieser Wochen tauchen in München Träumer auf, Schriftsteller zumeist, die lange um Einfluss strebten und sich dann plötzlich, unerwartet und unverhofft im Zentrum der Macht befinden. Oder der Ohnmacht. Volker Weidermann erzählt in seinem Buch „Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“ diese besondere Episode eines epochalen Geschehens: Die Bayerische Revolution oder genauer, das Ringen um die Weltgeschichte in München im Winter 1918/1919.
Die Militärführung des Deutschen Reiches hatte da schon seit einigen Wochen den von ihr mitbegonnenen Weltkrieg verloren gegeben. Im Stillen hatte sich auch schon die letzte große Verfassungsreform im Deutschen Reich vollzogen, die am 6. Oktober 1918 über Nacht aus der faktischen Diktatur der Obersten Heeresleitung eine parlamentarische Regierungsform mit einer zivilen Regierung schuf. Nebenher bereiteten die militärischen Führer in ihrem Wahn, ihrem politischen Dilettantismus und ihrer Realitätsferne sowohl die Basis für den Untergang des Kaiserreiches als auch den Weg für den künftigen Aufstieg eines gemeingefährlichen deutschen Nationalismus. Der Ausgang dieser Geschichte ist bekannt und neben dem Schulbuchwissen auch in vielen Fach- und Sachbüchern aus militärischer, politischer und sozialer Perspektive dargestellt.
“Träumer” als dokumentarische Erzählung
Volker Weidermann gelingt es mit seiner dokumentarischen Erzählung „Träumer“ dennoch, der bekannten Geschichte eine weitere Facette hinzuzufügen, die des (politischen) Künstlers. Weidermann steht dafür mit Kurt Eisner einer der zentralen Protagonisten der revolutionären Momente im Königreich Bayern zur Verfügung. Schon am 8. November 1918 hatte dieser in München am Ende eines langen und seltsamen Tages die Volksrepublik ausgerufen. Ein Thronverzicht des Bayerischen Königs Ludwig III. blieb zwar aus, jedoch folgte am 12. November 1918 immerhin eine offizielle Regierungsverzichtserklärung. Da war der Lauf der Welt in seiner Zufälligkeit schon längst unumkehrbar.
Weidermanns Erzählung beginnt indes nicht mit dem Moment des revolutionären Triumphs, sondern mit dem Augenblick des tragischen Scheiterns von Kurt Eisner, dessen „Weltsekunde“ da schon lange Wochen zurück lag. Unverkennbar stellt Weidermann hier schon in den ersten Sätzen der Erzählung einen Bezug zu einem anderen Dichter her, zu Stefan Zweig und dessen „Augenblicken der Menschheit“. Zweig war zwar nicht in München dabei, als die Geschichte ein neues Kapitel aufschlug. Mit seinen ab 1927 erschienenen „historischen Miniaturen“ bereitete er aber das Feld der dokumentarischen Novelle, auf dem auch Weidermann nun seinen Erzählergeist ausführt, einschließlich des Glaubens an die Bedeutung des Einzelnen für den Lauf der Geschichte.
Kurt Eisner und Thomas Mann als Gegensatzpaar
Kennerinnen und Kenner der deutschen Literatur finden bei Weidermann neben Kurt Eisner viele weitere Namen von Schriftstellern. Einige davon gehören zum Kanon, andere allenfalls noch zum germanistischen Seminar. Jedenfalls ist die Summe der Künstler, die den Weg der Revolution in den Wintermonaten 1918/1919 in München beschritten, kreuzten oder doch überwiegend säumten beeindruckend. Überraschend ist sie allerdings nicht. Dass München leuchtet, beschrieb Thomas Mann schon 1902 in seiner Erzählung „Gladius Dei“. Was dort leuchtete war das München der Kunstinteressierten, der stolzierenden Studenten und der Reichen, die sich mit Kunst und Künstlern zum Zeitvertreib ausstaffierten. Jedenfalls war die Stadt voller Menschen, die für die Kunst, mit der Kunst, durch die Kunst und selten auch von der Kunst lebten. Und mitten drin Thomas Mann. Er war einer dieser Augen- und Ohrenzeugen der Wendezeit in München und wird damit auch zu einer wichtigen Stimme in Weidermanns Erzählung. Mehr noch: Neben Eisner ist Thomas Mann einer der Fixpunkte, an denen sich der Fortgang des Berichts orientiert. Und wenn Eisner der namensgebende Träumer ist, der Akteur, der so viel Gutes will und doch so fulminant scheitert, so stellt uns Weidermann Thomas Mann als Prototypen des Deutschen dar, als Opportunisten, Beobachter, Kommentierer, Besserwisser, der bei allem auch noch vom Ungeschick geplagt ist, einer sich schnell ändernden politischen Realität stets einen Schritt hinterher zu taumeln.
Wirklich Unrecht tut Weidermann dem großen Schriftsteller, dem Nachfolger Goethes, nicht. Denn er lässt ihn seine Rolle selbst bezeugen, in Brief- und Tagebuchauszügen.
Überhaupt schöpft Volker Weidermann für seine Darstellung aus einer Vielzahl von Selbstzeugnissen und Briefstellen der damaligen Zeitgenossen. Das verleiht seiner Erzählung die dokumentarische Qualität. Dazwischen schreibt ein auktorialer Erzähler. Das ist natürlich nicht unproblematisch, da sich hier auch Fiktion als Realität verkleiden kann. Aber es schafft Nähe zu den Personen und den Handlungen. Es sorgt zudem für Spannung und Lesefluss, auch weil sich Weidermann selbst als talentierter Autor erweist.
Vom Antisemitismus durchseuchte Gesellschaft
Heraus kommt bei alledem ein anekdotenreiches und unterhaltsames Buch, das zwar der Geschichtsforschung nichts Neues hinzusetzen kann, das aber den Blick auf manch eine der großen und kleinen Personen des Kunstbetriebs erweitert. Und welches das Verständnis schärft für den Weg in den nächsten Krieg und die alle humanistischen Hoffnungen zermalmende Katastrophe. Auch wenn nämlich die Bedeutung der Künstler bei Weidermann womöglich etwas überschätzt wird, das Bild der Künstler als „Träumer“ etwas nahe ans Klischee rutscht und überhaupt die Figur des Künstlers sich vielleicht ein wenig zu sehr von der des einfältigen Menschen entrückt, zeigt Weidermann vor allem dort, wo er die Quellen sprechen lässt, wie durchseucht schon 1918 die deutsche Gesellschaft von der schlimmen Krankheit des Antisemitismus war, bis hinein in das „Stadtpalais“ in der Poschinger Straße 1 in München/Bogenhausen.
Volker Weidermanns „Träumer“ sind nicht nur deshalb, aber auch deswegen ein wichtiges Stück erzählter Geschichte, das den Gang in die Buchhandlung in jedem Fall lohnt.