Raben vor Noah

von Susanna Harutyunyan

Raben vor Noah: Roman über die doppelte Viktimisierung der West-Armenier

 

2014 und somit pünktlich zur 100. Jährung des osmanischen Genozids erschien in Armenien der Roman Raben vor Noah («Ագռավները Նոյից առաջ»), der 2016 mit dem jährlich verliehenen Derenik Demirtschjan-Preis der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften sowie mit dem Preis des Präsidenten der Republik Armenien ausgezeichnet wurde. Sie sind bei weitem nicht die einzigen Preise der Autorin. Schon ihre Erzählsammelbände Nachrichten aus dem Leben (Լուրեր կյանքից, 2006) und Vom Herbst ist die Rede (Խոսքը աշնան մասին է, 2009) wurden ausgezeichnet. Die 1963 im Dorf Kartscharbjur (Provinz Gerakunik) geborene Autorin publizierte seit 1996 acht Romane und gehört seit 2003 dem armenischen Schriftstellerverband an. Ihr Werke wurden in zehn Sprachen übersetzt sowie unter der Schirmherrschaft von USAID in Works of Contemporary Armenian Women Writers und South Caucasus Writers veröffentlicht.
Neun Jahre nach Erscheinen der armenischen Originalausgabe von Raben vor Noah hat nun die Jenaer Akademische Verlagsbuchhandlung Friedrich Mauke mit der deutschen Ausgabe des armenischen Romans ihre von der Europäischen Union geförderte Reihe „Edition Europastraße: E40“ eingeleitet. Unter dem Motto „Literatur, die verbindet“ soll die neue Reihe Übersetzungen aus Frankreich, Belgien, Deutschland, Polen, Belarus, Ukraine, Georgien, Armenien, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Kasachstan präsentieren. Armenien macht den Anfang. Russland und Aserbaidschan fehlen in der Reihe.

Raben vor Noah ist der erste Beitrag eines Autors aus der Republik Armenien zum osmanischen Genozid. In der Prosa armenischstämmiger Autoren der US-amerikanischen und französischen Diaspora ist dieses Thema in Gestalt von Familien- und Reiseromanen seit den 1980er Jahren sehr oft behandelt worden; selbst in der türkischsprachigen Prosa hat es sich seit Fethiye Çetins Memoir Anneannem (2004) etabliert. In Deutschland trugen Katerina Poladjan (2019), Laura Cwiertnia (2022) und zuletzt Marc Sinan zu dieser Gattung bei.

Was macht S. Harutyunyan anders als ihre Kollegen in der Diaspora? Ihre nicht nur literaturhistorisch bedeutsamste Neuerung besteht darin, dass sie den Genozid an West-Armeniern als doppelte Viktimisierung darstellt und somit die Schuld sowjetarmenischer Juristen und Polizeibeamter einbezieht. Die in der Stalinzeit begangenen Verbrechen betrafen vor allem Geistliche und ihre Familien sowie Intellektuelle, die als Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich in den Südkaukasus geflohen waren. Sie wurden festgenommen, willkürlich verurteilt oder extralegal ermordet bzw. verbannt. Etwa 2.000 armenische Geistliche wurden deportiert und ermordet. In der Nacht auf den 14. Juni 1949 deportierten die südkaukasischen Ortsbehörden 13.200 vermeintliche „Daschnaken“ (i.d.R. „Repatrianten“) und „ehemals türkische Bürger“ (Westarmenier) in den Altai („Daschnaken“) sowie die westsibirische Stadt Tomsk (Westarmenier).

Als ausgezeichnete Kennerin ihres Landes, seiner Geschichte, Mythen und Gebräuche muss Hartyunyan nicht ihre Protagonisten auf Erkundungsreise in ein ihnen unvertrautes Land schicken, wie Poladjan oder Cwiertnia. Raben vor Noah schildert die Entstehung und das Schicksal eines Gebirgsdorfes in Harutyunyans Heimatregion am Sewansee, diesem „letzten Schluck von Gottes Zorn“. Es ist eine auf ihre Grundelemente beschränkte, raue und erhabene Hochgebirgslandschaft. Dort lässt sich 1894 der aus dem Osmanischen Reich geflüchtete Pertsch mit seinem kleinen Neffen Haruth in den Ruinen eines seit Jahrhunderten entvölkerten und in Vergessenheit geratenen Dorfes nieder. Herangewachsen, bringt Haruth auf geheimen, nur ihm bekannten Wegen weitere Verfolgte und Flüchtlinge in sein Dorf, als dessen Oberhaupt Haruth sowohl Recht spricht, als auch Urteile vollstreckt. „Zuwachs brachten dem Dorf nicht die Geburten, sondern Haruths Fahrten in die Welt. Stets fand er jemanden vor, der vor der Ausweglosigkeit stand, vor dem Gesetz, vor den Türken, vor der Ehefrau oder vor sich selbst auf der Flucht war.“ (58)
Unter den 1915 aufgenommenen Flüchtlingen befindet sich Nachschun („die Schöne“): „Sie hatten die unberührte Sängerin des armenischen Klosters von Musch auf der ganzen Strecke von Wan nach Eriwan vergewaltigt, und als die Ankömmlinge das Dorf erreicht hatten, war der Bauch beachtlich groß.“ (S. 49)
Kein Autor vor Harutjunjan hat die Auswirkungen der armenischen Auffassung von Schande und Ehre so treffend und ausführlich behandelt. Haruth, der bald Nachschuns Gönner und Beschützer wird, fordert von ihrem Vater Sarkis, entweder seine Tochter oder sich selbst zu töten, um die Schande zu tilgen. Die Dorfbewohner bitten für Sarkis um Gnade, aber Haruth vertreibt den alten Mann gnadenlos in die Wildnis. Die westarmenischen Flüchtlinge dagegen verstehen Haruths Haltung. Da sich die Dorfheilerin Satho weigert, die Zwillinge, die Nachschun erwartet, abzutreiben, wachsen Nachschuns Töchter Anahit und Astrik in einem Milieu des Misstrauens auf. Sie gelten als Türken und entwickeln sich den allgegenwärtigen Vorurteilen entsprechend zu zänkischen „Flittchen“.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges holt die sowjetische Wirklichkeit das bis dahin abgeschiedene Dorf ein: Eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener soll in dessen Nähe arbeiten. Ihre armenischen Bewacher stoßen zunächst auf Nachschuns „Grab“, das sie ihrer ermordeten Familie symbolisch errichtet hat. Nachschun wird nach Sibirien deportiert, weil sie sich „weigert“ offenzulegen, in welchem Verhältnis sie zum Vater ihrer Kinder steht. Haruth gerät zeittypisch in den Verdacht, ein türkischer Spion zu sein. Ob ihm die rechtzeitige Flucht gelingt, bleibt offen. Nachschuns Tochter Astrik lässt sich mit dem Gänseforscher Konrad (Lorenz?!) ein, dem einzigen Deutschen, der die Einstürze der Brücke überlebt, die er und seine Kameraden errichten sollten. Am Ende verlassen der Deutsche und die „Türkin“ gemeinsam das Dorf, dem sie stets fremd geblieben waren.

Harutyunyan, Susanna: Raben vor Noah.
Ins Deutsche übersetzt von Susanna Yeghoyan.
Jena: Akademische Verlagsbuchhandlung Friedrich Mauke KG, 2023. (Edition Europastraße: E40), 232 S. ISBN 3948259100; ‎ 978-3948259105

Autor: Susanna Harutyunyan
Verlag:Akademische Verlagsbuchhandlung Friedrich Mauke
Genre:Roman
Seiten:232
ISBN:978-3948259105

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