Als dem chinesische Schriftsteller Mo Yan im Jahr 2012 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, setzte sofort eine Debatte darüber ein, ob er diesen Preis wirklich verdiene. Die Positionen dazu ließen sich ohne weiteres nach zwei Himmelsrichtungen einordnen. Und sie wurde mehr politisch als literarisch geführt. Aus dieser Kontroverse stach ein Zitat von Michael Hockx heraus, damals Professor für Chinesisch an der University of London: „A good writer is a good writer.“ So einfach ist das.
Geboren wurde Mo Yan 1955 in einer Bauernfamilie im Nordosten Chinas. Er wuchs in der jungen Volksrepublik China auf, fand eine berufliche Zukunft und Sicherheit in der Volksbefreiungsarmee, überstand die Kulturrevolution und machte in der Armee Karriere als Schriftsteller.
Er anerkannte die Grenzen dessen, was mitgeteilt werden durfte in diesem sozialistischen Staat mit demokratischer Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird (so steht es jedenfalls in Art. 1 der Verfassung der Volksrepublik China von 1982).
Wie nun gelingt ein Schriftstellerleben in diesen vorgefundenen Grenzen? In der Begründung der Nobelpreis-Jury wird Mo Yan als ein Künstler vorgestellt, der „mit halluzinatorischem Realismus Volksmärchen, Geschichte und Zeitgenössisches miteinander verbindet“. Sein Erzählstil trage die Handschrift des magischen Realismus. Eine Flucht also in das Fantastische?
In seinem erstmals im Jahr 2009, also drei Jahre vor der Nobelpreisverleihung, erschienenen Werk „Frösche“ entschied sich Mo Yan für einen neuen Stil, für einen Realismus, der (fast) ohne das Magische, das Verworrene, das Verschleiernde auskommt. Im Nachwort zu diesem Roman schreibt er selbst, er habe sich eine zeitlang Mühe gegeben, nirgendwo anzuecken, da er die Peitsche der ewig Selbstgerechten fürchtete. Doch nun habe er beschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen und nur seinem Gewissen Rechenschaft schuldig zu sein.
Was sich liest wie die Vorbereitung auf den Nobelpreis und die Vorwegnahme der Kritik an seiner „Systemnähe“, ist doch eher Zeichen einer spät erlangten Autorität innerhalb des chinesischen Kulturbetriebs und der Toleranzelastizität der Führung der Kommunistischen Partei. Denn das Thema seines Romans „Frösche“ ist ein hochpolitisches: Die Ein-Kind-Politik.
China und die Ein-Kind-Politik
Neben der roten „Mao-Bibel“ ist diese Ein-Kind-Politik eines der bekanntesten Stichwörter, die uns Europäern zur Volksrepublik China einfallen. Als die Vorgabe, jeder Familie nur ein Kind zuzugestehen, im Jahr 1979 landesweit eingeführt wurde, hatte sich die Einwohnerzahl seit dem Jahr 1950 bereits verdoppelt und erreichte die Milliardengrenze. Mit dieser ungewöhnlichen staatlichen Initiative sollte erreicht werden, dass das Bevölkerungswachstum gehemmt wird, es sich also mindestens verlangsamt. Denn es bestand die ernsthafte Sorge, dass die Ressourcen des Landes nicht ausreichen werden, um die rasant zunehmende Bevölkerung zu versorgen.
Eine solche aktive Bevölkerungsregulierung durch Geburtenunterdrückung war dabei nicht etwa bloß eine fernöstliche Idee. Der in Stanford lehrende Paul Ralph Ehrlich, ein Zoologe, fiel schon im Jahr 1968 mit seinem Buch „The Population Bomb“ auf, in dem er für eine strenge Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung warb und zugleich auch drastische (und grausame) Maßnahmen zur Reduzierung der Bevölkerung vorschlug, um diese unterhalb einer Schwelle von zwei Milliarden Menschen zu halten. Mehr, so befürchtete er, gäben die Ressourcen der Erde nicht her. Und so müsste jede größere Zahl an Menschen notwendig elendig an Hunger sterben. Wie inzwischen bekannt, war es gut, nicht auf ihn zu hören.
Für das China der 1970er Jahre konnte sich die Frage, ob die ständig wachsende Bevölkerung künftig ernährt werden könnte, aber durchaus als bedrohlich darstellen. Die Mehrzahl der heute 125 chinesischen Millionenstädte waren da noch Provinznester. Die Mehrheit der Menschen lebte in Dörfern. Selbst im Jahr 2020 beträgt der Urbanisierungsgrad in China erst erstaunliche 60 Prozent, allerdings Tendenz weiter stark steigend.
In dieser bäuerlich geprägten Gesellschaft war eine Vorgabe, jeder Familie nur ein Kind zuzugestehen, nicht nur ein Affront, sondern im Grunde nicht durchsetzbar. Für einen Sozialverband, in dem der Hoferbe männlich sein muss, bedeutet eine Begrenzung der Kinderzahl ein Ende der Ahnenreihe und der Altersversorgung. Tatsächlich galt dann die Vorgabe der Ein-Kind-Familie nie flächendeckend, Ausnahmen waren möglich. Nur von Kadern, Parteifunktionären und Menschen, die im Staatsdienst nach einer Karriere strebten, wurde ein vorbildliches Verhalten erwartet. Auch waren die Reaktionen bei Verstößen gegen die staatlichen Vorgaben in den meisten Teilen des Landes eher Sanktionen, die Vorteile entzogen, als strenge Strafen. Mit der Zeit wurde das Sanktionssystem dann gänzlich auf eine Strafgebühr umgestellt.
Andererseits wurde gerade in den ersten Jahren der neuen Geburtenpolitik in manchen Provinzen ein unbarmherzig strenges Regime eingeführt, sei es, um den Parteifunktionären und den Gouverneuren der Provinz den Karriereschritt nach Peking zu öffnen, sei es aus ehrlicher Sorge um die künftige Versorgungssicherheit und die Erwerbschancen der Menschen.
Aus einer solchen Provinz berichtet Mo Yan in seinem Werk, der einst ländlichen Gegend von Gaomi in den Provinz Shandong, gelegen im Nordosten Chinas. Diese Provinz hat eine kurze Berührung mit der deutschen Geschichte, gehörte sie doch zu dem „Schutzgebiet“ mit der Hafenstadt Qingdao, das für drei Jahrzehnte vom Deutsche Reich beansprucht wurde. Mit heute 100 Millionen Einwohnern ist die Provinz noch immer eine der bevölkerungsreichsten der Volksrepublik. Mo Yan bleibt sich insoweit treu. Denn die Handlungen aller seiner bisheriger Erzählungen sind in dieser seiner Heimatprovinz angesiedelt.
Von der Geburtshelferin zur Geburtsverhindererin
Im Zentrum der Erzählung steht eine Hebamme bzw. Frauenärztin, die vom Ich-Erzähler als seine Tante eingeführt (Tanta Gugu) und durch nahezu fünf Jahrzehnte begleitet wird. Geschildert werden die Phasen, in denen sich diese Tante Gugu zunächst zu einer geachteten Geburtshelferin entwickelt, um dann zu einer gefürchteten und gehassten Geburtsverhindererin zu werden. Eingerahmt wird die fortschreitende Erzählung jeweils von einer Bestandsaufnahme der sozialen Verhältnisse und Verwicklungen im dörflichen Umfeld.
An sein eigentliches Thema tastet sich der Roman dabei langsam heran. Er setzt ein zu Beginn der 1960er Jahren, als die große Hungersnot nach der missglückten Kollektivierung der Landwirtschaft die Menschen in der junge Volksrepublik quälte. Die Erzählung nimmt uns dann mit durch die Kulturrevolution mit ihrem roten Terror bis hinein in die frühen 1980er Jahre, der Hochzeit der Ein-Kind-Politik. Zuletzt spannt sie den Bogen hin zur Gegenwart. Immer bleiben die Dörfer des Gaomi (aus denen zum Schluss große Städte geworden sind) die Bühne.
Formal ist der Roman als Briefroman angelegt, wobei das Briefhafte dann doch stilistisch zurücktritt. Es bringt im Wesentlichem mit sich, dass neben die schon genannte Frauenärztin noch ein Ich-Erzähler hinzutritt. Und während die Tante Gugu immer wieder aus dem Bild verschwindet und nie ganz fassbar wird, tritt der Erzähler zunehmend auch reflektierend und wertend in den Vordergrund. So wirkt es zuweilen, als wolle Mo Yan zu den zentralen Ereignisse der jüngsten chinesischen Geschichte eine Haltung einnehmen, allesamt Episoden der Zeitgeschichte, die noch lange nicht aufgearbeitet sind. Das für sich genommen ist schon ein Wert.
Noch bemerkenswertes ist aber, dass im Roman nicht nur die drastischen Maßnahmen bis hin zu Zwangsabtreibungen als Mittel zur Durchsetzung der Ein-Kind-Politik aufgezeigt und zuweilen detailreich dargestellt werden. Mo Yan nimmt sich auch die Zeit (und den Mut), auf die seelischen Schäden hinzuweisen, die der und dem Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft insgesamt, dadurch zugefügt wurden.
Ja es kommt auch die Frage auf, wie nach solchen staatlichen Eingriffe überhaupt Gemeinschaft erhalten werden kann. Hier findet Mo Yan eine besondere Metapher. Den Personen in seiner Dorfgemeinschaft in Gaomi gibt er als Vornamen die Bezeichnung von Körperteilen. Er behauptet, dahinter stehe eine lange Tradition. So heißen seine Figuren Nase, Ohr, Augenbraue, Leber, Galle oder auch Fuß. Aus diesen Teilen und Gliedern könnte sich ein ganzer Körper formen. Die Hebamme, Tante Gugu, erhält natürlich den Namen Herz und steht damit auch bildlich im Zentrum dieses Körpers. Doch je wilder dieses Herz schlägt, desto unwahrscheinlich wird es, dass die vielen einzelnen Teile und Glieder zu einem Körper zusammenfinden können.
Frösche und Kinder
Frösche kommen im Roman auch vor, vor allem in einem alptraumhaften Bild auf einer sumpfigen Wiese, auf der die Hebamme/Frauenärztin von Massen dieser Tiere angegriffen, ja nahezu niedergerungen wird. Dieser Traum oder dieses Erlebnis (es bleibt unaufgelöst, was es sein soll), wird den Kampf von Tante Gugu zur Durchsetzung der Ein-Kind-Politik schlagartig beenden. Das Wort Frosch ist im Chinesischen klangverwandt mit dem Wort Säugling. So ergibt sich in dieser Szene, wie im Titel des Romans, ein besonderes Bedeutungsspiel – und eine besondere Katharsis.
Neben den Fröschen spielen kleine Tonfiguren eine wichtige Nebenrolle, ni-wa-wa genannt (Lehm-Babies). Die schönsten dieser Figuren werden in der Erzählung geformt von einem Künstler mit Namen Große Hand. Diese kleinen Figuren haben eine ursprüngliche Tradition als Kindersegen. Nach ihrer Umkehr wird Tante Gugu den Rest ihres Lebens damit verbringen, die tausende von Kindern, die sie nicht lebend in die Welt begleitet hat, dem Künstler Große Hand zu beschreiben, auf das er ihnen als Lehm-Babies eine Form und ein Dasein geben kann.
Am Ende der Erzählung, wenn der Bericht in der Gegenwart ankommt, wird es noch einmal turbulent. Die Veröffentlichung des Romans fiel in die zweite Amtszeit von Hu Jintao als Staatspräsident. Bestimmte Themen waren zu der Zeit für Kritik freigegeben. So wurde nicht nur eine Lockerung der ein Ein-Kind-Politik vorbereitet, sondern auch die ausufernde Korruption zunehmend thematisiert.
Kritik als Teil der Politik
Mo Yans Ausführungen stehen also durchaus im Einklang mit der damaligen politischen Linie. Und so holt die Erzählung zu einer umfassenderen Kritik an der realen gesellschaftlichen Entwicklung aus. In dieser Kritik schwingt immer auch ein Generationskonflikt mit, nur dass das typische Narrativ eines „früher war alles besser“ aufgrund der bisherigen Darstellung nicht verfangen kann.
Das Pendel schlägt nun in die entgegengesetzte Richtung aus. Dem alten Elend von Zwangsabtreibungen wird ein modernes neues gegenüber gestellt. So wird eine Froschfarm zur Fassade einer illegalen Gebärfabrik mit Leihmüttern, die Kinderwünsche am Fließband erfüllen (müssen). Damit können dann auch noch Senioren zu „eigenen Kindern“ kommen, der Erzähler eingeschlossen, auch wenn es eher gegen seinen Willen geschieht.
Und dann hält auch noch der magische Realismus Einzug in die Erzählung oder doch eher ein halluzinatorischer Realismus, wenn in einer wilden Szene das Alte auch noch mit reichlich Symbolik gegen das Neue verliert und Kleiner Renner, wie der Erzähler einst wegen seiner flinken Beine genannt wurde, in einem entscheidenden (letzten) Wettlauf unterliegt. Gebraucht hätte es diesen Ausflug ins Fantastische ebensowenig wie das im letzten Teil des Buches hinzugesetzte Theaterstück, um das die Briefe im Briefroman zuvor immer wieder kreisten.
Aber diese Zusätze trüben auch nicht den Eindruck dieses beklemmenden, ergreifenden Werkes, in dem der Autor mehr biografische Einblicke gewährt, als wir Leserinnen und Leser es uns vielleicht wünschen mögen. Doch das ist große Kunst. Durchaus nobelpreiswürdig.
Für den Zugang zum Werk in deutscher Sprache sorgte Martina Hasse, der eine stilistisch saubere und gut lesbare Übertragung aus der in so vieler Weise fremden Literatursprache gelang.
Dann könnten Sie das kleinere handliche Buch Wie das Blatt sich wendet von ihm lesen. Und danach, auf den Geschmack gekommen, sich die Frösche vornehmen…
Eine hochinteressante Rezension die ein Fremden Kulturkreis ausleuchtet. Mich schreckt die Rezension eher ab, das besprochene Buch zu lesen. Die Thematik ist mir zu fremd.
Rudolph