Jena um 1800 – für universitäre Zirkel in Germanistik und Philosophie ist das eine fast magische Formel. Die Stadt Jena, heute mit 100.000 Einwohnern eine von zwei Großstädten im ansonsten ländlichen Thüringen, war um das Jahr 1800 mit knapp 5.000 Einwohnern auch nach damaligen Maßstäben noch Kleinstadt. Aber sie hatte eine Universität, gegründet 1558, die just zum Ende des 18. Jahrhunderts aus manch zufälligem und manch erklärbarem Grund eine solche Blüte entfaltete, dass sie für einen Augenblick der Kulturgeschichte als die bedeutendste Hochschule im deutschsprachigen Raum galt. Das lag weniger an den insgesamt 18 ordentlichen Lehrstuhlinhabern, für die es feste Stellen gab, sondern vor allem an den in großer Zahl berufenen außerordentlichen und mithin unbesoldeten Professoren.
Deren prekäre Dienstverhältnisse sorgten dann auch dafür, dass viele der Stelleninhaber Zugvögeln gleich auf ihren Routen durch die mitteleuropäische Universitätslandschaft nur kurz in Jena Station machten. Immerhin zogen Namen wie Fichte, Schelling, Feuerbach und natürlich Schiller die Neugier der Jugend auf sich. Nicht wenige dieser jungen Männer (Frauen war das Studium noch verwehrt) kamen extra in Jena vorbei, um die Prominenten ihrer Zeit einmal live zu erleben.
Und doch war die Universität Jena um 1800 schon eigentlich wieder im Niedergang. Die Zahl der Immatrikulationen hatte sich da bereits auf jährlich 200 halbiert, gemessen an den Zahlen, die noch um 1790 zu verzeichnen waren. Die Alma Mater Jenensis war in eine eigenartigen Zwischenphase eingetreten.
Unterhaltung in der Zwischenwelt
In ein solches Dazwischen ist auch das Buch „Jena 1800: Die Republik der freien Geister“ von Peter Neumann geraten. Neumann, der an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena mit einer Arbeit zu Schellings Lehre von den Weltaltern und der Frage nach der Zeit bei Immanuel Kant promoviert wurde, ist in seinem Selbstverständnis Schriftsteller. Und dass er nicht nur philosophieren, sondern auch schreiben kann, beweisen seine bisher erschienenen Gedichtbände ebenso wie nun auch das hier zu besprechende Werk. Dieses liest sich wie gute Unterhaltung, flott geschrieben, auktorialer Erzähler und alles im offenbar noch immer als angesagt geltenden Präsenz gehalten. Aber was geschrieben ist, bleibt seltsam – nun ja: seicht.
Dabei ist der Plott vielversprechend. Zum Ende des langen 18. Jahrhunderts kommt in Jena eine illustre Runde junger Menschen – Frauen und Männer – zusammen, die jede und jeder für sich Großes vor haben und die jede und jeder für sich auch das unerschütterliche Selbstvertrauen mitbringen, mindestens herausragend zu sein. Es sind die Herren Schlegel (zweifach), Schelling, Tieck und Novalis, dazu die Damen Schlegel (zweifach, eine später dann Schelling). Hinzu kommen mindestens noch Schiller und Fichte. Das alles fügt sich zu einer Art Wohn- und Lebensgemeinschaft in einem Jenaer Altbau, die als Prototyp moderner Studierenden-WGs herhalten kann. Allerdings, und das muss betont werden, entstanden in dieser Atmosphäre zwischen fröhlichem Beisammensein, Misstrauen, Eifersucht und Drama neben flüchtigen Gedanken auch einige sehr bemerkenswerte Ideen und Werke.
Sachbuch oder Promiklatsch?
Davon berichtet auch Neumann, bildreich sogar, immer wieder auch mit Enthusiasmus und erkennbarer Begeisterung für seine Figuren. Aber wer deren Schriften, von denen manche auch mit Titel erwähnt werden, nicht bereits selbst gelesen hat, erfährt leider dazu fast gar nichts. Und auch diese dichten Monate in Jena werden nur episodenhaft präsentiert, mit Vor- und Rückblenden, wie bei diesen aktuell beliebten Dokumentationen im Fernsehen und auf Streamingportalen, mit reichlich Innenperspektive und Charakterskizze. Womöglich soll das Ganze frisch und zeitgemäß wirken. Aber es nähert sich doch sehr Promiklatsch-Formaten, vor allem weil der Autor als Voice-over immer genau weiß, was die Protagonisten denken und meinen, selbst wenn es um Zwischenmenschliches oder auch Alltagsbanales geht. Und dann ist die Wiedergabe auch nicht immer frei von merkwürdigen Versatzstücken aus der Trivialliteratur (»Caroline kümmert es nicht, was die Leute reden. Soll man sich in der Stadt doch das Maul zerreißen. Sie ist daran gewöhnt.«)
Eine exklusive Lektüre
Zugegeben, wer über eingehender Kenntnisse zu den historischen Persönlichkeiten verfügt, wer sich mit ihren Ideen beschäftigt hat, der findet in »Jena 1800« eine kurzweilige Kapitalfolge aus dem Inneren der Romantiker-Community, eine in kurzen Episoden gestaffelte Show zwischen Drama und Sitcom.
Wer dagegen neugierig und ohne vertiefte Vorkenntnis an die Lektüre geht, für diejenige oder denjenigen könnte die Leseerfahrung am Ende eine Enttäuschung sein. Denn bei allem Schwung des Erzählens, bei allen Intertextualitäten, Andeutungen und Zwischen-den-Zeilen-Verborgenem wird doch leider wenig vermittelt, was die Trias aus Personen, Ideen und Werk verständlich machen könnte und den Kreis der Frühromantiker in ihren Zeitkontext angemessen einordnet, mit all den Schrullen, dem Überdrehten und dem Vergänglichen ihrer Gedanken und Spekulationen.
Womöglich werden so manche Leserinnen und Leser, die das Buch auf der Suche nach dem »Aufbruch in die Moderne« (wie der Untertitel der Paperback-Ausgabe nun lautet) in die Hand nahmen, am Ende verlorene Liebesmühe feststellen müssen.
Ach ja, die Übersetzung von Shakespeares Werken war auch eine Aufgabe, die sich die jungen Leute vorgenommen hatten, eine besonders große Aufgabe, die sie indes bravourös lösten. Bei Shakespeares »Love´s Labour´s lost« brauchten Tieck und Schlegel besonders viel Geduld: 25 Jahre mussten vergehen von den ersten Übersetzungsarbeiten (ab 1801) bis zur Veröffentlichung 1826.
Die 256 Seiten von »Jena 1800« lassen sich zum Glück viel schneller lesen, zumal der Verlag den Raum für die Entfaltung des Werkes großzügig bemessen hat und uns Leserinnen und Leser durch Schriftgröße und Zeilenabstand eine Lektüre auch bei zunehmendem Lebensalter ganz ohne Lesebrille ermöglicht.