Geschichte der Abderiten

von Christoph Martin Wieland

Im kulturellen Gedächtnis des Deutschen ist Christoph Martin Wieland in einen selten benutzten subcorticalen Bereich verbannt. Schon Friedrich Nietzsche befand, der ihn immerhin als Übersetzer der lateinischen Klassiker schätzte:

Wielands Gedanken geben uns nichts mehr zu denken.

Denkmal am Wielandplatz in Weimar
Wielandplatz in Weimar
Quelle: André Störr

Für die Moderne mit ihrem neuen Rhythmus, dem Maschinentakt und den Großstädten, war Wieland nach Nietzsches Vorstellung zu schwerfällig und schlimmer: zu leichtgewichtig. Doch Nietzsche irrte, mindestens in Bezug auf eines von Wielands Werken: Die Geschichte der Abderiten.

Womöglich ist auch diese Geschichte nicht in Gänze klassisch, aber eines der schließlich fünf Bücher ist es auf jeden Fall, das in heutiger Zählung vierte Buch mit dem „Prozess um des Esels Schatten“.

„Die Abderiten – eine sehr wahrscheinliche Geschichte“ erschien ab dem Jahr 1774 in der von Wieland selbst gegründeten Zeitschrift «Der Teutsche Merkur» als Fortsetzungsroman. In heutigen Maßstäben lässt sich sagen, dass es eine der beliebtesten Serien der Zeit war. Bis ins Jahr 1781 zogen sich die Staffeln, die sich dann 1784 auch als zweibändiges Werk in fünf Büchern sortierten. Hinter dieser Verlagsstrategie stand nicht zuletzt Wielands Geschäftssinn. Den konnte sich der Autor damals freilich auch leisten. Denn als Wieland 1769 nach Thüringen kam, zunächst nach Erfurt an die dortige Universität, dann 1772 nach Weimar an den herzoglichen Hof, war er bereits eine Berühmtheit. Er war maßgeblich daran beteiligt, die deutsche Sprache zu einer Literatursprache zu formen, hatte Shakespeare in deutsche Verse übersetzt und diverse römische Autoren. Und er hat Poesie in einer Leichtigkeit geformt, die zuvor in der deutschen Mundart kaum für möglich gehalten wurde.

Wieland Denkmal
Wieland Denkmal (die Flasche in der Rechten gehört gewöhnlich nicht dazu)
Quelle: André Störr

Sein Leben außerhalb der literarischen Welt war dagegen weniger erfolgreich. In seiner Heimatstadt Biberach hatte er zwar ein hohes Amt erhalten, wurde dann aber in einem jahrelangen Verfassungskonflikt zermürbt. An der im Niedergang befindlichen Universität Erfurt erhielt er zwar eine Professur. Doch wurde er nur seines Ruhm als Schriftsteller wegen berufen, akademische Arbeiten wurden von ihm gar nicht erwartet und waren dann auch gar nicht erwünscht. Als Prinzenerzieher in Weimar erwies er sich schon nach wenigen Wochen als gänzlich ungeeignet, da er viel zu nachgiebig und wenig konsequent war. Aber gehen lassen wollte ihn der kleine Weimarer Hof auch nicht mehr. Immerhin hatte der Kleinstaat endlich einmal eine Berühmtheit an sich gebunden. Darum wurde ihm, noch keine vierzig Jahre alt, für sein kurzes Erzieheramt eine lebenslange Rente in schwindelerregender Höhe zugestanden. Da sich der ferne Kaiserhof wenig interessiert zeigte, den als frivol gestempelten Protestanten als Reichsdichter nach Wien zu rufen, so blieb Wieland in Weimar, hielt die Provinz als wohlhabender Bürger aus und wurde den Klassikern, die nach ihm kamen, ein väterlicher Freund, dessen Einfluss indes mit jedem Jahrzehnt etwas mehr schwand.
Während die Klassiker nach ihm das Ideal einer Menschheit beschworen, die Romantiker dann die Wirrnis der Moderne und die Wahrheit der Natur aufzudecken glaubten, fühlte Wieland sich der Wirklichkeit verbunden und schrieb in aller Ehrlichkeit auf, was er sah. Und er sah, dass auch die Aufklärung mit ihrer Idee, den Menschen durch Bildung besser zu machen, nicht weit kommen würde. Denn der Mensch ist, wie es Immanuel Kant in einem Moment der Ehrlichkeit selbst zugestand:

…doch aus ganz krummen Holz geschnitzt, so dass nichts rechtes daraus werden kann.

Und so passiert es, dass sich in den Attischen Weiten vor der Stadt Abdera ein Eseltreiber und ein Zahnarzt, der den Esel für eine Reise gemietet hatte, zu streiten beginnen. Sie streiten über die Frage, ob der Zahnarzt als Mieter des Esels auch den Schatten des Tieres nutzen kann, um während einer Rast dort Schutz zu finden. Oder ob, wie es der Eseltreiber als Vermieter meint, der Esel das eine, sein Schatten das andere sei und darum die Nutzung des Schattens gesondert vergütet werden müsse. Was diesem unsinnigen Streit, der so ganz aus der Ernsthaftigkeit des Lebens gegriffen wurde, in den folgenden Episoden an juristischen Verwicklungen widerfährt, ist gar nicht so wichtig. Mit Rechtsmeinungen und Subsumtionen will dieser Streit nicht aufgelöst werden. Am Ende, so viel darf verraten werden, endet dieser Streit dann tatsächlich ganz friedlich und unjuristisch. Aber auf dem Weg dorthin wird in allen Stufen der Eskalation aufgezeigt, warum die Behauptung von Recht einem Kampf gleichkommt und warum es Gerechtigkeit nicht geben kann, wenn jeder Recht haben will. Es werden die ganz großen Frage nach Gesellschaft und Staatlichkeit aufgeworfen und demonstriert, wie dünn die Firnis der Zivilisation ist, die über dem rohen, dem gemeinen, dem unvernünftigen Menschenhaufen liegt, der sich zur Gesellschaft formen muss.

Durch jedes Kapitel des Werkes hindurch verweist Wieland auf die Dialektik der Aufklärung, die doch erst fünf Generationen nach ihm so brutal offenbar werden sollte. Denn auch in der sprichwörtlichen Dummheit der Abderiten steckt ja jede Menge Verstandesleistung. Sie führt eben nur zu nichts Gutem.

Abdera wird ganz am Ende untergehen, das fordert schon die historische Korrektheit. Immerhin ist es nicht der Prozess um des Esels Schatten, der das Gemeinwesen in den Ruin treibt, auch wenn er das Gemeinwesen im wahrsten Sinne polarisiert und in Gänze erfasst. Auch darum lohnt es sich, wenigstens dieses eine kurze Stück aus dem mannigfaltigen Werk Wielands zu lesen. Denn er ist, wie eigentlich immer in seinen Werken, am Ende milde mit der Menschheit.

Wieland war einer der wenigen Philanthropen unter den großen Autoren in deutscher Sprache. Vielleicht geriet er auch darum in Vergessenheit. Doch sollte dieses Vergessen nun enden. Deshalb jetzt hinein in den Text, am schnellsten geht es im übrigens mit dem Projekt Gutenberg (Geschichte der Abderiten). Und wenn die Abderiten durchlesen sind, dann unbedingt noch die „Musarion“ lesen, schon wegen der wunderbarsten Poesie, die es in deutscher Sprache gibt. Und dann natürlich noch „Koxkox und Kikequetzel“, weil Rousseaus Idee des Naturzustandes und der Freiheit nirgends sonst so schön einem fiktiven Realitätstest unterzogen wurden…

Autor: Christoph Martin Wieland
Verlag:Reclam
Genre:Roman
Seiten:528
ISBN:978-3-15-019004-3

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