Im Jahr 1957 bewarb sich der damals 27jährige Schriftsteller Siegfried Pitschmann über die zentrale Arbeitskräftelenkung der DDR als Bauarbeiter auf der Großbaustelle des Werkes „Schwarze Pumpe“. Im sorbischen Dorf Schwarze Pumpe bei Spremberg entstand zu dieser Zeit ein riesiger Industriekomplex zur Energiegewinnung durch Braunkohle. Ein halbes Jahr lang arbeitete Pitschmann auf der Baustelle, bis eine Krankheit ihn zwang, die Tätigkeit aufzugeben. Seine Schriftstellertätigkeit offenbarte er dabei zunächst nicht.
Der Bitterfeld Weg
Im Grunde war Pitschmann damit einer der ersten Künstler der DDR, die den sogenannten Bitterfeld Weg beschritten, noch bevor dieser zum politischen Programm wurde. Offiziell begann dieser Bitterfelder Weg erst im Anschluss an eine Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlags, zu der dieser im April 1959 in das Bitterfelder Chemiekombinat eingeladen hatte. Die DDR-Kulturpolitik machte sich diese Konferenz mit ihrem Motto „Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht Dich“ zunutze, um eine politisch gesteuerte Kultur zu etablieren. Walter Ulbricht selbst gab ihn seiner Rede in Bitterfeld als Ziel vor, die „Entfremdung zwischen Künstler und Volk“ zu überwinden. Nicht nur sollten Arbeiterklasse und werktätige Bauern, die Träger der Diktatur des Proletariats, zum Kunstschaffen angehalten werden. Vor allem sollten die Künstler ihre Themen im Alltag der Werktätigen suchen und deren Leistungen würdigen, natürlich so, dass sich die Werktätigen darin positiv wiederfinden.
„Erziehung eines Helden“
Siegfried Pitschmann wurde dann eines der ersten Opfer dieses neuen Weges. Und das lag ausgerechnet an der Erzählung „Erziehung eines Helden“, in der Pitschmann die eigenen Erfahrungen aus seiner Tätigkeit als Bauarbeiter durchaus autobiografisch verarbeitete. In dieser unvollendet gebliebenen Erzählung ist es ein Pianist, der von einer Sinnkrise erfasst „etwas ganz Verrücktes“ tun wollte und als Bauarbeiter beim Großprojekt „Schwarze Pumpe“ anheuerte. Die Fragment gebliebene Erzählung ist mehr Katharsis als Bildungsroman, mehr Läuterung als Erziehung. Sie beschreibt im Grunde genau das, was die Kulturpolitik später will: Die Aufgabe einer sich über die Form definierenden Kunst hin zu einer gesellschaftlich nützlichen Kunst. Es ist dies eine Idee, wie sie schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im sozialistische Milieu, aber auch im davon beeinflussten Diskurs um das Kunstgewerbe populär war. Pitschmanns Pianist verzweifelt zu Beginn an seinem Berufsweg, der ihn als Künstler statt in den Konzertsaal nur ins Kaffeehaus führte. Zu seinem Künstlertum findet er dann an einem halb verstimmten Kneipenklavier in einem verrauchten Raum voller Arbeiter und auch Arbeiterinnen. Denen präsentiert er zunächst noch mit einer gewissen Arroganz eine Fuge von Bach, dann aber voller Hingabe ein in mancherlei Hinsicht leichteres klassisches Programm und erhält dann das, was er zuvor stets vermisste: Aufmerksamkeit und Zuneigung des Publikums. Als Pianist wird er dabei im Sinne der Kulturpolitik auch zum Kunstpädagogen, wenn er auf die bestimmt übermittelte Aufforderung „Mach Rock´n Roll“ lieber einen Blues spielt, da er für die „perfektionierten, tödlich einfallsarmen Versionen“ des Rock´n Roll nicht viel übrig hat. Erst nach diesem sonderbaren Konzert erhält der bauarbeitende Künstler, der bisher im Buch nur der „Lange“ hieß, den Spitznamen „King-Klavier“ und ist nun kein Namenloser mehr, sondern im Kreis der Werktätigen angekommen. Seine Rolle findet er damit zwar noch nicht. Immerhin nimmt er aus dem Konzert schon einmal das Bild einer jungen Frau mit, dem Barbarenmädchen, das seine bisherige Liebe ersetzen könnte, eine in einem Dorf bei Weimar zurückgelassene junge Lehrerin.
Mit den Abenteuern seines Helden zeigt Pitschmann aber auch schon auf, warum der Bitterfelder Weg eine Sackgasse sein wird. Denn der Künstler passt nicht auf die Baustelle. „Du kannst Dir Mühe geben wie Du willst, […] du wirst kein richtiger Arbeiter werden, kein Prolet; du bleibst immer der jämmerliche, lächerliche Überläufer aus dem Kleinbürger-Panoptikum, der auszog, das Gruseln zu lernen“, wirft sein Protagonist sich selbst vor. In Pitschmanns detaillierter Milieubeschreibung von der Baustelle wird dann deutlich, dass dieser Selbstvorhalt nicht nur Attitüde, sondern Erkenntnis ist, gleichsam von Pitschmanns selbst erfahrenem Scheitern gedeckt. Diese Erkenntnis wird mehrfach auch in körperlichen Vergleichen illustriert, wenn sich der hochgewachsene aber dünne King-Klavier mit den muskulösen Bauarbeiten in seiner Umgebung vergleicht. Nur seine Pianistenhände vermag er mit der Zeit zu ruinieren.
Was war nun aber so falsch an dem Werk Pitschmanns, dass nicht nur der Verlagsvertrag mit dem damals von Klaus Gysi geleiteten Aufbau-Verlag aufgehoben wurde, sondern auch der Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes, Erwin Strittmatter, höchstselbst die Arbeit als Beispiel einer kulturellen Fehlentwicklung junger Künstler herausgriff und offen kritisierte? Falsch aus Sicht der DDR-Kulturfunktionäre war vor allem die Sprache, falsch war der an der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, an Vorbildern wie Ernest Hemingway orientierte Realismus. Für die SED-Kulturpolizei war diese „harte Sprache“ eine Beleidigung der Werktätigen. Der Versuch einer möglichst realistischen Milieustudie, in der sich die Typen der Arbeiter und Arbeiterinnen wiederfinden, wird zur feindlichen Propaganda, denn sie poetisiert nicht, sondern stellt dar. Es ist dann gleichgültig, dass Pitschmann an die Idee des Sozialismus glaubte, dass er seinen Typen jeweils mit viel Sympathie und Milde begegnet, dass der Brigadier im Text ein wirkliches Vorbild ist, dass die staatlichen Vorgaben zum Plansoll nicht kritisiert werden und hinter jedem einzelnen groben Bauarbeiter und hinter jeder Bauarbeiterin ein Mensch zum Vorschein kommt mit einer Biografie und einem persönlichen Weg und Werden. Es hilft ihm nicht, dass die Realität der Werktätigen in der DDR, wie Pitschmann sie in eigener Anschauung vorfand, nicht dem entsprach, was in den Texten von Marx beschrieben und vor allem in den Werken Lenins verklärt wird. Es schlummerte in den Individuen eben keine Weltrevolution, sondern Alltag, Überleben, Ärger, ein wenig Vergnügen und eine dunkle Vergangenheit aus der Zeit des dritten Reiches.
Neben diesem Einblick in ein Stück Alltagsgeschichte der frühen DDR-Jahre ist es gerade die von Strittmatter kritisierte „harte Sprache“, die aus Pitschmanns Erzählung Literatur, aus dem jungen Schriftsteller einen Autor von Format machte. Denn diese Sprache ist Kunst und zugleich Abkehr vom großbürgerlichen Kanon. Sie ist in diesen Schaffensjahren Pitschmanns durchdrungen von Jugend, etwa wenn er über den Park an der Ilm im unabwendbar klassischen Weimar schreibt: „Der Park war berühmt, obgleich man ihn stets eines gewissen Gruftgeruchs verdächtigte, wenn man an die schwärmerisch hingerissenen Gesichter alternder Professorenfrauen dachte…“
Die Kritik an seinem Text trieb den stets zweifelnden Autor in eine Lebenskrise, in einen Selbstmordversuch und in eine Zukunft, die ihm weniger brachte, als im hätte zukommen können. Er wurde für einige literarisch verdichtete Jahre der Ehemann von Brigitte Reimann, heiratete danach noch zweimal, lebte ein zurückgezogenes Schriftstellerleben, blieb im Kulturbetrieb der DDR bis zu deren Ende am Leben, vor allem als Hörbuch- und Drehbuchautor durchaus erfolgreich. Im Jahr 2002 starb er 72jährig im Thüringischen Suhl, wo er die letzten Lebensjahre verbrachte und in der Literarischen Gesellschaft Thüringen eine junge Generation von Literaten ermutigte.
Die DDR-Führung gab den Bitterfelder Weg schon nach wenigen Jahren wieder auf. Pitschmanns unvollendete Erzählung wurde dennoch erst aus seinem Nachlass heraus im Jahr 2015 im Bielefelder Aisthesis Verlag endlich veröffentlicht. Der Verdienst der Herausgeberschaft kommt Kristina Stella zu, die auch ein kluges und informatives Nachwort beisteuert und eine weitere Kurzgeschichte Pitschmanns hinzusetzt. Wie schade, dass der Text unvollendet blieb, die weitere Erziehung des King-Klavier offen bleiben muss, seine zweite Begegnung mit dem Barbarenmädchen nicht mehr stattfinden und auch die letzte Frage nach der Rolle der Kunst in der Gesellschaft nun nicht mehr vorläufig beantwortet werden kann. Aber es ist dennoch in mehrerer Hinsicht ein wirkliches Stück deutscher Nachkriegsliteratur.
Was für eine Zeit. Ein Dank an den Rezensienten André Störr der hier die Literatur der DDR einem breiteren Publikum nahebringt