Eine europäische Durchschnittsfamilie – Mutter, Vater, Tochter (13), Sohn (10) – fahren in den Sommerferien in das Sommerhaus der Familie an der Finnischen Ostseeküste. So wie der erste Roman des Finnisch-Schwedischen Autors Philip Teir (Jahrgang 1980) kann ein Thriller beginnen oder eine Familientragödie.
Philip Teir entwickelt auf 299 Seiten aber keines der beiden Genre. Den Leser erwartet eine fein ausgeführte Portraitserie. Der kleine Personenkreis des Romans wird dabei aus jeweils verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Stilistisch ist das gekonnt ausgeführt, methodisch ist das spannend. Und es funktioniert. Der Roman entwickelt trotz eines gemächlichen Erzähltempos und einer gewollten Ereignisarmut eine Sogwirkung. Langsam wird die Dramaturgierschraube weiter gedreht. Jede Umdrehung legt eine neue Schicht frei. Der Gegenstand entblättert sich, bis nichts mehr den innersten Kern, den Grund des Erzählens, den Höhepunkt der Geschichte, verbirgt.
Soviel darf verraten werden: Die Welt an sich geht nicht unter und die ganze Wahrheit, die zu Beginn eigentlich schon offenbart wird, schockiert nicht, sondern lässt sich in der Beiläufigkeit hinnehmen, wie sie wahrscheinlich auch gemeint ist.
Was auch immer Nachrichtensendungen, Zeitungsseiten und Internetnews uns an Problemen aus der Welt nach Europa bringen – die eigentlichen Themen, die uns beschäftigen, erschrecken, ängstigen scheinen ganz in uns zu liegen. Vor all den weltgeschichtlichen Ereignissen ist es schon bemerkenswert, was uns tatsächlich lähmt und stagnieren lässt. Schon 2010 beschrieb der polnische Autor Wojciech Kuczok in seinem Roman „Lethargie” in einer ganz ähnlichen Tonlage wie nun Teir einen Zustand von Gesellschaft, die mit ihrer Idee von Individualität nichts mehr anzufangen weiß.
Bei Philip Teir will nun nicht einmal mehr die hippiegleiche, sektenartige Gruppe von Umweltaktivisten, die zugleich mit der Durchschnittsfamilie ein Sommerhaus am Strand bezieht, die Welt retten. Ihr Bekenntnis gilt vielmehr der schicksalhaften Akzeptanz des unabwendbaren Untergangs der Menschheit. Mit stoischer Gelassenheit und mehr noch epikureischen Freuden wird dieser nur noch zur Kenntnis genommen. Denn im Grunde, so lässt es der Autor einen Beobachter feststellen, geht es bei diesen Weltabwendungen immer nur um Sex.
Teir führt uns in seinem Roman heraus aus der Stadt in das, was für Städter Idylle ist. Indes, es ist dies eine verblasste Idylle. Nur durch Kindheitserinnerung wird deren Leere gefüllt. Urlaub ist heute eigentlich anders. Tatsächlich will keiner der in der Siedlung Gestrandeten im eigentlichen Sinne Urlaub machen, von den Kindern einmal abgesehen. Für die Erwachsenen sind es in unterschiedlichem Maße Fluchten. Nur bringen sie alle mit, wovor sie fliehen wollen. Manch einer findet den besseren Fluchtgrund auch erst noch vor. Fast jeder seiner Protagonisten darf sich im Laufe der geschilderten Tage (oder sind es doch Wochen?) entwickeln. Manches wird dabei gerade gerückt, manches wird endlich verständlich. Einige dieser Entwicklungen lassen sogar einen Aufbruch, womöglich auch ein künftiges Besser, möglich erscheinen. Vielleicht aber auch nicht.
Am Ende des Buches steht ein Gewitter, das klärend sein könnte. Am Ende des Lesens dann steht ein Gefühl der Zufriedenheit. Keiner der Figuren wird mehr zugemutet, als sie zu tragen im Stande ist. Es wird alles irgendwie weiter gehen können. All das wird stets in einer sprachlichen Gewandtheit entwickelt, die Lesevergnügen garantiert. Dabei: Die Qualität der Sprache des in Finnlandschwedisch geschriebenen Originals kann hier natürlich nicht verbindlich beurteilt werden. Die deutsche Übersetzung von Thorsten Arms jedenfalls macht Freude und überzeugt.
Wer seinen Sommerurlaub in Finnland verbringen will, sollte Philip Teirs Roman, übrigens sein zweiter, unbedingt im Gepäck haben. Für alle anderen ist er zwar kein Muss, aber eine garantiert positive Leseerfahrung.